Wenn der Architekt Busse baut: Die unwahrscheinliche Geschichte des Erfurter Multi-Unternehmers Hans-Georg Herb

Stell dir vor, du sitzt 1998 in einem fast leeren Architekturbüro in Erfurt. Die Nachwendeeuphorie ist vorbei, der Bauboom kollabiert, Aufträge bleiben aus. Deine Mitbewerber schließen reihenweise ihre Büros. Was machst du? Aufgeben? Zurück ins Angestelltenverhältnis?

Hans-Georg Herb hatte eine andere Idee: Wenn niemand mich beauftragt, beauftrage ich mich selbst.

27 Jahre später baut derselbe Mann neben Wohnungen auch elektrifiziert Reisebusse mit einer Technologie, die 60% effizienter ist als alles, was die etablierte Automobilindustrie derzeit auf die Straße bringt. Und zwar von Erfurt aus. Nicht aus München, Stuttgart oder Berlin. Aus Erfurt.

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Das ist keine typische Startup-Story. Das ist die Geschichte eines Unternehmers, der aus purer Notwendigkeit gelernt hat, Branchen zu wechseln wie andere Leute Jobs – und dabei ein vertikales Ökosystem aufgebaut hat, das von Immobilien über Architektur bis zur Elektromobilität reicht.

Der Zwang zur Diversifikation

1998 war kein gutes Jahr für junge Architekten in Ostdeutschland. Hans-Georg hatte das Pech, sein Studium genau dann abzuschließen, als der Markt einbrach. Während die großen Geschäfte in den fetten Nachwendejahren gemacht wurden, saß er noch auf der Schulbank. Als er fertig war, war die Party vorbei.

Seine Lösung war radikal einfach: Er kaufte Gebäude, sanierte sie und verkaufte sie wieder. Nicht aus unternehmerischer Vision, sondern aus Überlebenswille. Das erste große Projekt: Die Futhmühle in Erfurt, ein denkmalgeschütztes Fachwerkgebäude, das viele für unwirtschaftlich sanierbar hielten. Hans-Georg war 26 Jahre alt.

Diese frühe Zwangs-Diversifikation war kein strategischer Masterplan. Aber sie etablierte ein Muster, das sich durch seine gesamte Karriere ziehen sollte: Wenn der Markt dir keine Chancen gibt, kreierst du dir deine eigenen.

Die Brücke zwischen Welten

Der entscheidende Moment kam mit einer scheinbar unspektakulären Zusatzqualifikation: Energieberater Bau. Für die meisten Architekten ist das eine praktische Ergänzung. Für Hans-Georg wurde es zum intellektuellen Schlüssel für eine komplette Transformation.

Plötzlich sah er nicht mehr nur Gebäude – er sah Energiesysteme. Der Schritt von energieeffizienten Häusern (KfW-40-Standard) zu energieeffizienten Fahrzeugen war näher, als man denkt. Beide Welten drehen sich um dieselben Grundprinzipien: Energieverbrauch minimieren, Effizienz maximieren, Systeme intelligent vernetzen.

2014 elektrifizierte Hans-Georg sein ersten Auto, einen Porsche. Er nennt es selbst den Moment, wo er "caught the bug". Was als technische Spielerei begann, entwickelte sich zur systematischen Mission. Weitere Fahrzeuge folgten, dann Nutzfahrzeuge, schließlich Busse. 2015 gründete er elerra motiv mit 1.500 m² Werkstattfläche. 2022 folgte TO ZERO electric vehicles mit einem klaren Fokus: Bis 2028 sollen 5.000 Busse elektrifiziert werden.

Die 60%-Lösung

Hier wird es technisch – und genau hier liegt der eigentliche Durchbruch.

Die meisten E-Bus-Lösungen am Markt funktionieren mit Getrieben. Hans-Georg und sein Team haben einen getriebelosen Direktantrieb entwickelt, der bei gleicher Leistung nur 60% der Energie verbraucht, die vergleichbare Getriebe-Lösungen benötigen. Das ist kein marginaler Vorteil. Das ist ein Quantensprung.

Die Zahlen sprechen für sich:

  • 420 kWh Batteriekapazität mit LFP-Technologie (nicht entflammbar)

  • 500 km Reichweite im Reisebus

  • 200-250 kW Schnellladung (100 km in 30 Minuten)

  • 91,79% CO2-Einsparung gegenüber Diesel

  • 50 Tonnen Materialeinsparung pro Bus durch Retrofitting

Der letzte Punkt ist entscheidend. Während die Industrie von Kreislaufwirtschaft redet, praktiziert Hans-Georg sie tatsächlich. Ein neuer Elektrobus kostet 600.000-700.000 Euro und hat Lieferzeiten von Jahren. Eine TO-ZERO-Umrüstung kostet 300.000-340.000 Euro, ist in Monaten fertig und rettet einen funktionierenden Bus vor der Verschrottung.

Das ist nicht nur ökologisch sinnvoll. Es ist ökonomisch überlegen.

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Der unsichtbare Innovator

Was diese Geschichte so bemerkenswert macht: Hans-Georg Herb ist in der Öffentlichkeit quasi unsichtbar. Trotz weltweitem erstem Retrofit-Reisebus, trotz Besuch von Wirtschaftsminister Habeck, trotz technologischer Vorreiterrolle – es gibt genau ein öffentliches Zitat von ihm in 27 Jahren.

Während andere Unternehmer Personal Branding betreiben, baut Hans-Georg lieber Produkte. Während andere auf LinkedIn Thought Leadership zelebrieren, elektrifiziert er den nächsten Bus. Seine Strategie: Co-CEO Michael Pfeffer übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit, er konzentriert sich auf operative Exzellenz.

Das ist die Antithese zur modernen Startup-Kultur – und es funktioniert.

Seine Unternehmen sind erfolgreich, politisch anerkannt und technologisch führend. Ohne dass er eine einzige Keynote gehalten hat. Die Lektion für Unternehmer: Exzellenz spricht für sich. Du musst nicht zwangsläufig der Lauteste sein, um der Beste zu sein.

Das Erfurter Ökosystem

Fünf Unternehmen, drei Geschäftsführer, mehrere Standorte – auf den ersten Blick könnte man Hans-Georgs Struktur für überkomplex halten. Bei genauerer Betrachtung wird die Logik sichtbar.

herb | architekten (seit 1998): Das Original. Spezialist für Neubau, Sanierung, Denkmalpflege.

ibh bauwerke & HK Immobilienmanufaktur: Projektentwicklung und Bauträger. Die vertikale Integration von Planung bis Realisierung.

elerra motiv (seit 2014/15): Meisterbetrieb für Elektrotechnik UND Metallbau. Hier liegt die erste Synergie: Der Metallbau fertigt Stahlkonstruktionen für die Immobilienprojekte.

TO ZERO electric vehicles (seit 2022): Die Bus-Umrüstung mit dem Direktantrieb.

eba bauwerke energy (in Aufbau): Ladeparks mit Batteriespeichern. Die nächste logische Stufe: Wer Elektrobusse verkauft, muss auch die Ladeinfrastruktur liefern.

Diese Struktur ist kein Zufall. Jedes Unternehmen zahlt auf die anderen ein. Die Energieberater-Expertise verbindet energieeffizientes Bauen mit energieeffizienter Mobilität. Der Metallbau senkt Kosten in der Immobilienentwicklung. Das Batterien-Know-how aus der Bus-Elektrifizierung fließt in stationäre Speicherlösungen.

Das ist keine Portfolio-Diversifikation. Das ist ein durchdachtes Ökosystem mit echter operativer Synergie.

Erfurt statt Berlin

Lass uns über den Elefanten im Raum reden: Ostdeutschland. Genauer: Erfurt.

Hans-Georg hätte nach Berlin gehen können. München. Hamburg. Die Startup-Hotspots, wo das Kapital fließt, die Talente sitzen, die Medien berichten. Hat er nicht. Er ist in Erfurt geblieben. 35 von 55 Lebensjahren. Seine Kinder sind hier geboren. Erfurt ist seine Heimat.

Die Frage ist: War das ein Handicap oder ein Vorteil?

Die Antwort überrascht. Erfurt bietet:

  • Niedrigere Kosten für Produktion und Immobilien

  • Weniger Wettbewerb um Fachkräfte

  • Engere Beziehungen zur Landespolitik (Wirtschaftsministerium um die Ecke)

  • Mehr Fokus durch weniger Ablenkung

  • Größerer Impact pro Investment

Gleichzeitig löst er globale Probleme. Die EU Clean Vehicles Directive fordert die Elektrifizierung von ~15.000 Bussen. Hersteller haben Lieferengpässe. Hans-Georg füllt diese Lücke – von Erfurt aus.

Das ist die neue Realität: Weltklasse-Innovation entsteht nicht nur in Metropolen.

Die Startup-Szene romantisiert Berlin, München, Hamburg. Aber die eigentliche Innovation passiert oft woanders. In B-Städten, wo Unternehmer nicht von Hype und Hektik abgelenkt werden, sondern sich auf das Wesentliche konzentrieren: Produkte bauen, Probleme lösen, Werte schaffen.

Learnings für Unternehmer

Hans-Georg Herbs Geschichte bietet konkrete Lektionen:

1. Diversifikation aus Notwendigkeit kann zu strategischem Vorteil werden Was als Überlebensstrategie begann (eigene Bauträger-Projekte), entwickelte sich zu einem integrierten Ökosystem. Manchmal sind die besten Strategien diejenigen, die wir gezwungen waren zu wählen.

2. Qualifikationen als Brücken zwischen Branchen Die Energieberater-Ausbildung war keine zufällige Zusatzqualifikation. Sie wurde zum intellektuellen Schlüssel für den Sprung von Architektur zu Elektromobilität. Welche Qualifikation könnte für dich zur Brücke werden?

3. Manufaktur schlägt Masse in Nischenmärkten Während die Automobilindustrie auf Serienfertigung setzt, wählt Hans-Georg bewusst den Manufaktur-Ansatz. Das ermöglicht Flexibilität für Individuallösungen – von Oldtimern bis Schwer-LKW. Kleinere Unternehmen können durch Spezialisierung Nischen besetzen, die für Konzerne unattraktiv sind.

4. Timing ist alles – aber Geduld auch Er elektrifizierte 2014 seinen Porsche, Jahre vor dem Mainstream. Sein erster Retrofit-Reisebus kam 2025 auf den Markt – Jahre vor MAN (2026) oder Daimler (~2030). Früh sein verschafft Vorsprung. Aber es erfordert auch die Geduld, auf den Markt zu warten.

5. Nachhaltigkeit und Profitabilität schließen sich nicht aus Retrofitting kostet 50% eines Neubusses, spart 91,79% CO2 und 50 Tonnen Material. Das ist nicht nur gut fürs Gewissen – es ist gut fürs Geschäft. Die besten Geschäftsmodelle lösen echte Probleme profitabel.

6. Stille Exzellenz > lautes Marketing In einer Welt von Personal Branding und LinkedIn-Aktivismus wählt Hans-Georg den gegenteiligen Weg. Er delegiert Öffentlichkeitsarbeit und fokussiert sich auf operative Exzellenz. Seine Unternehmen beweisen: Erfolg erfordert nicht zwingend Sichtbarkeit.

Was als Nächstes kommt

Er ist nicht fertig. Die nächsten Projekte stehen bereits:

Nightliner: Tourbusse für Musikveranstaltungen. Extrem teure Spezialfahrzeuge, die nicht verschrottet werden können, sondern umgebaut werden müssen. Perfekter Use Case für Retrofitting.

Ladeparks mit Batteriespeichern: Viele Busbetreiber sagen, sie können keine E-Busse einsetzen, weil der Stromanschluss fehlt. Hans-Georgs Antwort: Wir bauen euch die Infrastruktur. Solar + Batteriespeicher = unabhängig vom Netzausbau.

Bidirektionales Laden: Neue Gesetzgebung ermöglicht Vehicle-to-Grid. Busse mit 420 kWh können als rollende Batteriespeicher dienen und Netzspitzen abfedern. Die nächste Stufe der Integration.

Die Vision ist klar: Ein vollständiges Ökosystem nachhaltiger Mobilität und nachhaltigen Bauens. Von der energieeffizienten Immobilie über den selbst produzierten Solarstrom bis zum elektrifzierten Fahrzeug. Alles vernetzt, alles optimiert, alles aus einer Hand.

Die eigentliche Botschaft

Diese Geschichte ist keine Heldenreise. Hans-Georg würde der Erste sein, der das betonen würde. Es ist die Geschichte eines Unternehmers, der aus Notwendigkeit begann, aus Neugier weitermachte und aus Überzeugung durchzog.

Aber sie ist auch ein Gegenentwurf zu dem, was uns als Erfolgsgeschichte verkauft wird. Keine Venture-Capital-Millionen. Kein Exit nach fünf Jahren. Kein Personal-Branding-Feuerwerk. Stattdessen: 27 Jahre geduldiges Aufbauen. Organisches Wachstum. Operative Exzellenz. Echte Innovation statt Marketing-Hype.

Und das wichtigste: Es funktioniert. Von Erfurt aus.

Wenn du das nächste Mal jemand sagt, dass Innovation nur in Metropolen passiert, dass du Venture Capital brauchst, dass Personal Branding unverzichtbar ist, dass Ostdeutschland ein Nachteil ist – denk an Hans-Georg Herb.

Der Mann, der als Architekt begann und heute Europas erste umgerüstete Elektro-Reisebusse baut. Der fünf Unternehmen führt, ohne je ein Interview gegeben zu haben. Der ein vertikales Ökosystem aufgebaut hat, während andere noch an der Geschäftsidee feilen.

Von Erfurt aus. Seit 1998. Ohne Schnickschnack.

 

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Sebastian Meier

Als Brückenbauer zwischen Innovation und Tradition prägt Sebastian Meier die Zukunft des ostdeutschen Unternehmertums. Seine außergewöhnliche Expertise wurzelt in zwei Welten: Als ehemaliger Leiter des Thüringer Zentrums für Existenzgründungen erkannte er die Bedeutung starker Netzwerke und brachte erstmals die relevanten Akteure der Gründungsszene an einen Tisch. Diese neugeschaffenen Synergien zwischen Wirtschaft, Forschung und Förderung wirken bis heute nach. Als Gründer führte er selbst die myGermany GmbH von der Startup-Vision zum erfolgreichen internationalen Bestandsunternehmen.

Diese einzigartige Kombination aus Startup-DNA und Institutionserfahrung macht ihn zum gefragten Sparringspartner für Unternehmer und Innovatoren. Mit EASTSIDE HEROES verfolgt er heute eine klare Mission: Die Transformation Ostdeutschlands zum dynamischen Wirtschaftsstandort der Zukunft. Sein 15 Jahre aufgebautes Netzwerk aus über 500 aktiven Unternehmenskontakten nutzt er, um etablierte Player mit innovativen Scale-ups zu verbinden und echte Wertschöpfung zu generieren.

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