Von der Asche zum Neuanfang: Christoph Jentzschs Weg vom größten Blockchain-Hack zur Finanzrevolution
Wie ein Physiker aus Mittweida nach einem 60-Millionen-Dollar-Debakel die deutsche Startup-Finanzierung revolutioniert
Es gibt Geschichten, die könnte man sich nicht ausdenken. Die Geschichte von Christoph Jentzsch ist eine davon. Ein theoretischer Physiker aus dem 14.000-Einwohner-Städtchen Mittweida wird zum Ethereum-Pionier, erlebt den größten Crowdfunding-Erfolg und -Skandal der Geschichte und baut heute von genau diesem Ort aus die Zukunft der deutschen Startup-Finanzierung. Seine Geschichte ist ein Lehrstück über Mut, Scheitern und die Kraft des Neuanfangs.
Der Unternehmer mit dem Asymmetrie-Mindset
"Ich glaube ganz stark an diese Asymmetrie - wo das Risiko gecapped ist und die Chance uncapped ist. Die habe ich mein Leben lang wahrgenommen", erklärt Christoph sein Erfolgsgeheimnis. Dieses Mindset hat ihn von der Doktorarbeit in theoretischer Physik zu den Core-Entwicklern von Ethereum geführt - und schließlich zum Architekten einer der folgenreichsten Blockchain-Innovationen überhaupt.
2014 stieß der junge Familienvater mit drei Kindern auf Vitalik Buterins Ethereum-Whitepaper. Was andere als komplexe technische Spezifikation abtaten, erkannte Christoph als Revolution: "Ethereum war für mich keine zweite Währung. Das war eine Plattform für dezentrale Applikationen." Seine Fähigkeit als Physiker, sich tief in komplexe Materie einzuarbeiten, zahlte sich aus. Er las das Whitepaper 16 Mal, bis er es vollständig verstanden hatte.
Die DAO: Vom Experiment zum Weltrekord
Was als kleines Experiment für seine Firma Slock.it begann, entwickelte sich zu einem globalen Phänomen. Die DAO (Decentralized Autonomous Organization) sollte ursprünglich 5 Millionen Dollar sammeln. Am Ende wurden es 150 Millionen Dollar in vier Wochen - das größte Crowdfunding der Geschichte. "Wir haben mit der DAO Geschichte geschrieben", reflektiert Christoph heute.
Doch der Triumph wurde zur Tragödie. Ein Fehler im Smart Contract, den Christoph selbst geschrieben hatte, ermöglichte einem Hacker, 60 Millionen Dollar zu stehlen. Die Ethereum-Community stand vor einer philosophischen Grundsatzfrage: Sollte ein Hard Fork den Hack rückgängig machen oder sollte "Code is Law" gelten?
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Die Kraft der Authentizität nach dem Fall
Der Moment, der Christophs Charakter vielleicht am besten zeigt, kam nach dem Hack. Während andere rieten, den Namen zu wechseln und unterzutauchen, entschied er sich für Transparenz: "Jeder weiß, wer ich bin. Ich weiß, was ich gemacht habe. Ich spiele kein Versteckspiel."
Diese Authentizität wurde zu seinem Rettungsanker. Statt zu verstecken oder zu vertuschen, stellte sich Christoph der Öffentlichkeit, gab Interviews und sorgte dafür, dass alle Investoren ihr Geld zurückbekamen. "Die zwei Säulen, auf denen ich feststehen kann, egal was passiert: meine Frau und Gott", beschreibt er seine Kraftquellen in dieser schwierigen Zeit.
Der Neustart: Aus Fehlern lernen, ohne zu verstecken
Was folgte, war kein Rückzug, sondern ein mutiger Neustart. Slock.it wurde nicht aufgegeben, sondern weiterentwickelt. Das Team blieb zusammen, fand neue Investoren und baute das Unternehmen zu einer erfolgreichen IoT-Firma aus, die 2019 schließlich verkauft wurde.
"Ich baue es nicht für die nächsten zwei, drei Jahre, ich baue es für die nächsten 20 bis 30 Jahre", beschreibt Christoph heute seine veränderte Perspektive. Diese Langzeitorientierung spiegelt sich in seinem neuen Projekt wider: Tokenize.it, einer Plattform, die die deutsche Startup-Finanzierung revolutionieren soll.
Die Revolution des "Invest Now"-Buttons
Tokenize.it löst ein Problem, das jeder Gründer kennt: die Komplexität der Kapitalbeschaffung. "Ein Invest Now-Button, der funktioniert", so beschreibt Christoph seine Vision auf den Punkt gebracht. Was einfach klingt, basiert auf einer ausgeklügelten rechtlichen Innovation: tokenisierte Genussrechte, die wirtschaftlich echten GmbH-Anteilen entsprechen, aber ohne Notar ausgegeben werden können.
Die Plattform ermöglicht es Unternehmern, kontinuierlich Kapital zu sammeln, statt sich alle 18 Monate durch aufwendige Finanzierungsrunden zu quälen. Familie, Freunde und Business Angels können mit wenigen Klicks investieren - ein Prozess, der früher Wochen dauerte, ist auf Minuten reduziert.
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Mittweida vs. Silicon Valley: Die bewusste Standortentscheidung
Trotz globaler Möglichkeiten hat sich Christoph bewusst für Mittweida entschieden. Seine Familie lebt seit dem 15. Jahrhundert in der Region, er selbst hat acht Kinder und schätzt die Lebensqualität abseits der Großstädte. Doch seine Standortentscheidung ist mehr als Nostalgie - sie ist Statement.
"Die meisten staatlichen Initiativen sind zwar nett, aber ich glaube nicht, dass sie einen so großen Einfluss haben. Wenn es gute Gründer gibt, dann kommt auch genügend Kapital nach Sachsen", erklärt er seine Sicht auf die Regionalförderung. Statt auf staatliche Hilfe zu setzen, glaubt er an ein sich selbst tragendes Ökosystem, in dem erfolgreiche Unternehmer in die nächste Generation reinvestieren.
Die Kritik am Fördersystem
Christophs Kritik am deutschen Fördersystem ist deutlich: "Es mangelt nicht an Forschung in Deutschland. Es mangelt an Verkäufern, an Sales, an Marketing." Er bemängelt, dass viele Förderprogramme nur Forschung unterstützen, aber Unternehmen daran hindern, echte Marktpräsenz zu entwickeln. "Ihr dürft aber doch kein Produkt am Markt haben, es darf nur Forschung sein. Wollt ihr mich jetzt aufhalten oder unterstützen?"
Seine Alternative: Fonds wie der High-Tech Gründerfonds, die wie echte VCs investieren und dabei helfen, marktfähige Unternehmen aufzubauen, statt nur Forschungsprojekte zu finanzieren.
Reichtum als Verantwortung
Trotz seines Erfolgs hat Christoph eine reflektierte Sicht auf Geld und Verantwortung. "Ich sehe mich als Treuhänder für diesen Überschuss", erklärt er seine Philanthropie-Philosophie. Sein Ansatz: Erst erfolgreiche Unternehmen aufbauen, dann mit den Gewinnen Gutes tun - "Build to Give" statt direkter Wohltätigkeit.
"Es bringt fast nichts mehr der Gesellschaft als ein Unternehmer, der eine Firma aufbaut, Mitarbeiter und Arbeitsplätze schafft, Produkte schafft, die das Leben besser machen", ist seine Überzeugung. Diese Haltung spiegelt sich auch in seiner Entscheidung wider, seine Holding in eine gemeinnützige GmbH umzuwandeln.
Die Vision: Eine tokenisierte Zukunft
Christophs Langzeitvision ist radikal: "In 20 Jahren werden alle Unternehmen tokenisiert sein." Was heute mit deutschen GmbHs beginnt, soll sich auf alle Unternehmensformen ausweiten. Die Blockchain-Technologie wird aus seiner Sicht die gesamte Finanzinfrastruktur revolutionieren - von globalen Kreditmärkten bis zu automatisierten Dividendenzahlungen.
Der Optimismus des Machers
"Unternehmer müssen Optimisten sein. Durch und durch. Wir haben die Mittel, wir machen einfach", fasst Christoph seine Lebensphilosophie zusammen. Seine Geschichte zeigt: Scheitern ist nicht das Ende, sondern oft der Beginn von etwas Größerem.
Aus dem gescheiterten DAO-Experiment entstanden nicht nur wichtige Lektionen für die gesamte Blockchain-Branche, sondern auch die Grundlage für eine neue Art der Unternehmensfinanzierung. Christoph Jentzsch beweist, dass man nicht nach Berlin oder ins Silicon Valley muss, um die Welt zu verändern - manchmal reicht ein Physiker aus Mittweida mit der richtigen Vision und dem Mut, nach jedem Fall wieder aufzustehen.
Seine Geschichte ist eine Ermutigung für alle Unternehmer: Scheitern gehört dazu, Authentizität zahlt sich aus, und die größten Innovationen entstehen oft dort, wo man sie am wenigsten erwartet - in einem 14.000-Einwohner-Städtchen in Sachsen.
Die vollständige Episode mit Christoph Jentzsch ist verfügbar auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Weitere Eastside Heroes findet ihr unter Daily.