Handwerk 4.0: Wie Thomas Völlmert Social Media als Vertriebskanal im Handwerk verwendet

In einer Branche, die traditionell auf Mundpropaganda und Gelbe-Seiten-Einträge setzt, fährt Thomas Völlmert einen radikal anderen Weg. Seine knallbunten Firmenfahrzeuge sind in Erfurt allgegenwärtig, seine Instagram-Videos generieren auch schon mal Tausende Kommentare, und die Hälfte seiner Mitarbeiter findet er über Social Media. Doch der Weg zu dieser außergewöhnlichen Position war alles andere als geradlinig – er führte durch eine Insolvenz, unbezahlte Rechnungen in Höhe von 30.000 Euro und die harte Erkenntnis, dass handwerkliches Können allein nicht ausreicht.

Der erste Anlauf: Scheitern als Lehrmeister

2004 wagte Thomas den ersten Sprung in die Selbstständigkeit. Frisch aus der Bundeswehr entlassen, wo man ihm Multiple Sklerose diagnostiziert und Dienstunfähigkeit attestiert hatte, stand er vor der Wahl: Umschulung ins Büro oder den einzigen Weg gehen, den er kannte – das Malerhandwerk. "Ich kann nur das, ich kann nur malen. Ich bin jetzt kein klassischer Bürohengst gewesen", erinnert er sich an seine damalige Entscheidung.

Was folgte, war eine dreijährige Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsgurt. "Von Tuten und Blasen keine Ahnung", beschreibt Thomas seine damalige Situation mit erfrischender Ehrlichkeit. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse? Fehlanzeige. Vertriebsstrategie? Nicht vorhanden. Finanzplanung? Die Kohle wurde ausgegeben, wie sie kam.

Der Todesstoß kam von einem größeren Auftraggeber, einem in Erfurt bekannten Unternehmer im Friseurbereich. Thomas hatte über Monate hinweg gearbeitet, 3.000 Quadratmeter alleine verputzt, sich die Hände kaputtgemacht – und die große Schlussrechnung über 30.000 Euro immer wieder vor sich hergeschoben. "Am Ende hat er nicht bezahlt. Das hat mir die Knie weggezogen", sagt Thomas heute über jenen Moment, der 2007 in die Privatinsolvenz führte.

Die Jahre im Niemandsland

Sieben Jahre dauerte die Privatinsolvenz damals noch. Sieben Jahre, in denen Thomas bei seinem ehemaligen Lehrmeister angestellt war, hier und da auf dem Bau mithalf, bei Umzügen jobbte. Jahre, die man leicht als verlorene Zeit abtun könnte – doch Thomas nutzte sie anders.

Über den Sport lernte er Guido kennen, einen Freund, der im Außendienst bei einem Gewürzhändler arbeitete. Thomas machte ein Praktikum, wollte nicht einmal Geld dafür. Der Vertrieb faszinierte ihn. "Da weiß ich noch, da gab's den ersten Lohn und da war gerade die Insolvenz vorbei. Da hatte ich, weiß nicht, 1.600 Euro oder so. Das war richtig viel Kohle", erinnert er sich an das Gefühl finanzieller Sicherheit.

Doch dann kam der Tag, der alles veränderte. Die Firma verkaufte über Nacht ihre Feinkostsparte – just in dem Moment, als Thomas neue Kunden akquiriert hatte. Taktisch geplant, wie sich herausstellte. "Du hast deine Daseinsberechtigung verloren und du hast aber auch dein Gesicht verloren", beschreibt Thomas den Schmerz dieser Erfahrung. Gegenüber EDEKA-Unternehmern in Nordbayern hatte er Zusagen gemacht, die plötzlich wertlos waren. "Das hat mich so tief getroffen, dass ich mir dachte: Das passiert mir nicht wieder."

Der Neustart: Diesmal mit Plan

2017 wagte Thomas den zweiten Anlauf. Diesmal mit einem entscheidenden Unterschied: Er stellte sich die Frage, wo er hin wollte. Acht Angestellte, das war das Ziel. Und um dieses Ziel zu erreichen, brauchte er nicht nur handwerkliches Können, sondern professionelle Strukturen.

Die erste Investition: Eine Software speziell für Maler namens "WinWorker" für 4.500 Euro. Damals ein Vermögen für einen Ein-Mann-Betrieb. Aber Thomas hatte verstanden: Solide Beine brauchen ein solides Fundament. "Dann habe ich Ausschau gehalten nach jemandem, der im Büro sitzt, der einfach das, was ich nicht kann, besser kann."

2018 kam der strategische Schachzug: die Übernahme eines Trockenbaubetriebs. Die ursprünglich geplante Firmenübernahme war geplatzt, aber Thomas holte die Mitarbeiter ins Boot. Die Logik war bestechend: Wo Trockenbau hingestellt wird, muss später Farbe drauf. Zwei komplementäre Gewerke unter einem Dach – die Wertschöpfungskette war geschlossen.

Die Transformation: Vom Handwerker zum Unternehmer 4.0

Der entscheidende Wendepunkt kam durch eine zufällige Begegnung. Daniel Koch, ein befreundeter Unternehmer, empfahl Thomas ein Gespräch mit Christian von der Erfurter Kreativagentur Samt & Seidel. Was folgte, war ein Spaziergang mit Hund – und eine brutale Wahrheit.

"Du, nur mal so eins vorweg: Deine Werbung ist, oder deine Autos sehen total beschissen aus", eröffnete Christian das Gespräch. Thomas' DIY-Meisterwerk – die Erfurter Skyline auf dem ersten Bus – wurde gnadenlos zerlegt. "Das hat mich getroffen, weil das war für mich wirklich mein Meisterwerk", gibt Thomas zu. Doch er vertraute dem Experten.

Das Ergebnis revolutionierte sein Geschäft. Samt & Seidel entwickelte ein Konzept, das Fahrzeuge als "fahrende Werbetafeln" begreift. Heute sind die knallbunten Firmenwagen mit der prägnanten Gestaltung in Erfurt nicht zu übersehen. "Wir haben bei uns die Nicole, die fragt immer jeden Kunden, wie sind Sie denn auf uns aufmerksam geworden – und da hörst du entweder über Mundpropaganda oder halt: Wir sehen immer die bunten Autos."

Social Media: Die unterschätzte Geheimwaffe

Parallel zur visuellen Transformation entdeckte Thomas die Macht von Social Media. Nicht als Hobby, sondern als strategisches Werkzeug. Mit Nico Hausmann holte er sich einen Social Media Manager ins Boot, der ein bis zwei Mal im Monat Content produziert. Das Ergebnis? "50 Prozent der neuen Mitarbeiter kommen über Social Media."

Ein Video über die Kosten fürs Fensterabkleben – 16,33 Euro für zehn Minuten Arbeit – explodierte auf 2.500 Kommentare. "Ich rede offen über Preise. Du brauchst zehn Minuten dafür. Ich muss meine Leute ja auch für die zehn Minuten bezahlen", erklärt Thomas seine Transparenz-Strategie. Die Kommentare sind gespalten, aber genau das ist der Punkt: Sichtbarkeit durch Polarisierung.

Vier bis fünf Stunden täglich investiert Thomas in Social Media – morgens beantwortet er Kommentare vom Vorabend, abends scrollt er durch die Feeds. "Das Telefon klingelt an KRO", bestätigt er den Return on Investment. In einer Branche mit massivem Fachkräftemangel ist diese digitale Präsenz Gold wert.

Die 35.000-Euro-Weiterbildung

Die vielleicht wichtigste Investition war jedoch unsichtbar: 35.000 Euro für ein Coaching bei Matthias Aumann von "Mission Mittelstand". Aumann, selbst Gärtnereibesitzer, hatte seine Elternfirma vom Bankrottrand zu über 100 Mitarbeitern in zwei Jahren skaliert.

"Das war schon sehr wichtig", sagt Thomas über diese Zeit. Er lernte Liquiditätstabellen, Liquiditätsvorschauen, systematisches Projektmanagement. "Wir haben Liquiditätstabellen, haben Liquiditätsvorschautabellen – was kommen für Kosten im Dezember, im Januar, im Februar." Das klingt banal, ist aber für viele Handwerksbetriebe Neuland.

Die wichtigste Erkenntnis: "Wenn das Büro scheiße ist, dann können deine Jungs draußen super arbeiten, aber dann geht's da in die Binsen." Heute beschäftigt Thomas eine Vollzeit-Bürokraft und plant eine weitere Assistenz. "50 Prozent nur Büro", schätzt er den administrativen Aufwand für seine Position.

KI im Handwerk: Tradition trifft Technologie

Während viele Handwerksbetriebe Digitalisierung noch als Bedrohung sehen, nutzt Thomas sie als Werkzeug. Bedenkanzeigen – jene rechtlich relevanten Schreiben bei Baustellen-Problemen – lässt er von KI verfassen. "Dann nehme ich KI, quatsche das rein und KI schreibt mir meine Bedenkanzeige mit Gesetzestexten."

Auch bei der Aufmaßberechnung experimentiert er mit KI: Bauzeichnung fotografieren, hochladen, KI rechnet Quadratmeter, Grundfläche, Wandfläche, Ecken. "Das hat sie gut gemacht. Am Ende habe ich nachgerechnet und hatte noch eine Differenz von 15 Quadratmetern in der Wandfläche." Noch nicht perfekt, aber ein Anfang.

Der nächste Schritt: KI-gestützte E-Mail-Antworten auf Standardanfragen. "Ich glaube, das ist nicht mehr weit weg", prophezeit Thomas. Und bei negativen Social-Media-Kommentaren? "Mach dir einen Screenshot, gib das der KI, sag: KI, schreib mir eine Antwort. Weil ich mich da auch gar nicht gedanklich auf manches Niveau hinbegeben kann."

Die Krankheit als Nicht-Ausrede

Über all dem schwebt eine Diagnose, die für viele das Ende jeder körperlich anspruchsvollen Karriere bedeuten würde: Multiple Sklerose. 50 Prozent Schwerbehinderung. Doch Thomas lässt sich davon nicht definieren.

"Die MS steht mir nicht im Weg. Ich lebe damit, ich nehme ja auch immer meine Ruhepausen", erklärt er pragmatisch. Zehn Minuten Power-Napping, gelernt im Außendienst, laden den Akku wieder auf. "Verdammt nochmal, da muss man sich zehn Minuten nehmen."

Die Krankheit kommt im gesamten Gespräch kaum vor – nicht aus Verdrängung, sondern weil sie schlicht nicht im Mittelpunkt steht. Ein Nervenleiden am Auge führte zur Brille, ein geplatztes Blutgefäß in der ersten Selbstständigkeit war ein Warnsignal für ungesunde Lebensweise. Heute achtet Thomas auf Ausgleich, auf Pausen, auf seinen Körper.

Die Formel zum Erfolg

Heute beschäftigt Thomas 16 Mitarbeiter in zwei Betrieben. Trockenbau Völlmert für die technische Präzision, Malerbetrieb Farbe & Leim für die ästhetische Gestaltung. Die Auftragsbücher sind voll, die Nachfrage übersteigt die Kapazität.

"Wir sind nicht die günstigsten, das will ich auch nicht sein", stellt Thomas klar. Ordentliche Löhne, professionelles Marketing, hochwertige Fahrzeugbeklebungen – das alles kostet. "So ein Bus, den wir heute haben, das Bekleben kostet viele tausend Euro. Das sind halt einfach fixe Kosten."

Seine Kunden sind überwiegend Privatkunden. "Dieses ganze Preisdumping bei diesen riesengroßen Baustellen, Bauträgern, wo es um Centbeträge geht – da habe ich einfach keinen Bock drauf." Stattdessen setzt er auf Qualität, Transparenz und persönlichen Service.

Das Finanzamt bescheinigte ihm nach viertägiger Prüfung, dass er "alles richtig macht". Für Thomas ein Meilenstein: "Meine Mitarbeiter geben mir täglich Feedback, dass ich alles richtig mache als Chef. Das geben mir die Kunden. Aber ich hatte noch nie das Feedback von der Finanzbehörde."

Die Botschaft an die nächste Generation

"Handwerk hat goldenen Boden", zitiert Thomas seinen Vater. Trotz KI, trotz Automatisierung, trotz Robotern. "Ich glaube, Handwerk wird das Letzte werden, was von der digitalen Welt, von KI ersetzt wird."

Seine Empfehlung für junge Gründer ist simpel: "Immer an das glauben, wo man hin will. Man muss sich einen Plan machen vom Leben, dass man das will, und dann Mütze auf und los geht's." Entscheidend sei das Umfeld: "Sich mit Leuten umgeben, die da sind, wo man hin will. Weil die können dir einfach so viele Dinge verraten, was andere nicht können."

Fazit: Der Handwerker der Zukunft

Thomas Völlmert verkörpert eine neue Generation von Handwerksunternehmern. Einer, der die Tradition des Handwerks mit den Werkzeugen der digitalen Moderne verbindet. Der bereit ist, für professionelles Branding, Coaching und Softwarelösungen zu investieren. Der Social Media nicht als Spielerei abtut, sondern als strategisches Akquise-Werkzeug nutzt.

Sein Erfolg basiert nicht auf einem Geheimrezept, sondern auf drei simplen Prinzipien: Aus Fehlern lernen. In Qualität investieren. Keine Ausreden machen.

Die Geschichte eines Erfurter Malers zeigt: Im Handwerk ist noch lange nicht alles gesagt. Man muss es nur anders machen als alle anderen.

Sebastian Meier

Als Brückenbauer zwischen Innovation und Tradition prägt Sebastian Meier die Zukunft des ostdeutschen Unternehmertums. Seine außergewöhnliche Expertise wurzelt in zwei Welten: Als ehemaliger Leiter des Thüringer Zentrums für Existenzgründungen erkannte er die Bedeutung starker Netzwerke und brachte erstmals die relevanten Akteure der Gründungsszene an einen Tisch. Diese neugeschaffenen Synergien zwischen Wirtschaft, Forschung und Förderung wirken bis heute nach. Als Gründer führte er selbst die myGermany GmbH von der Startup-Vision zum erfolgreichen internationalen Bestandsunternehmen.

Diese einzigartige Kombination aus Startup-DNA und Institutionserfahrung macht ihn zum gefragten Sparringspartner für Unternehmer und Innovatoren. Mit EASTSIDE HEROES verfolgt er heute eine klare Mission: Die Transformation Ostdeutschlands zum dynamischen Wirtschaftsstandort der Zukunft. Sein 15 Jahre aufgebautes Netzwerk aus über 500 aktiven Unternehmenskontakten nutzt er, um etablierte Player mit innovativen Scale-ups zu verbinden und echte Wertschöpfung zu generieren.

Als Nerd für Künstliche Intelligenz und Automatisierung berät Sebastian regelmäßig Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation.

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