Vom schlechtesten Start zum größten Erfolg: Oliver F. Zintl und die Radwelt-Story
Stell dir vor, du investierst eine Million Euro in einen neuen Laden, eröffnest mit Riesenerfolg – und musst 14 Tage später wegen Corona wieder schließen. Was würdest du tun? Aufgeben? Oliver F. Zintl aus Jena hatte eine andere Antwort: weitermachen. Heute betreibt er mit seinen zwei Partnern zehn Radwelt-Stores in Mitteldeutschland, beschäftigt 120 Mitarbeiter und hat aus einem regionalen Fahrradhändler einen der erfolgreichsten CUBE-Partner Deutschlands gemacht.
Seine Geschichte beginnt aber nicht im Fahrradladen, sondern in der CNC-Industrie. Und genau das macht sie so spannend.
Der Sprung ins kalte Wasser – mit 40+ nochmal neu anfangen
15 Jahre lang arbeitete Oliver in der Präzisionstechnik. Von 2011 bis 2019 führte er mehrere Unternehmen der PTF-GROUP im Erzgebirge, ein CNC-Fertigungsunternehmen mit drei Werken – zwei in Deutschland, eins in China. Er hatte sich hochgearbeitet vom Außendienstmitarbeiter auf Provisionsbasis bis zum Geschäftsführer mit Minibeteiligung gemeinsam mit zwei weiteren Geschäftsführern. Ein klassischer Industriemanager mit solider Karriere.
Dann kam 2019 der Schnitt. Alle seine Positionen bei der PTF-GROUP endeten nahezu gleichzeitig. Ein Jahr später, im Januar 2020, stieg er bei Radwelt.store ein – als dritter geschäftsführender Gesellschafter neben den Gründern Daniel Resch und René Hartmann.
Fahrräder? Einzelhandel? Für einen studierten Betriebswirt aus der Industrie auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Schritt. Aber Oliver brachte genau das mit, was das Unternehmen für die geplante Expansion brauchte: Erfahrung im Firmenaufbau, im Finanzwesen, in strategischen Aufbaukonzepten. Die technische Fahrradexpertise hatten seine Partner. Er sollte das Wachstum orchestrieren.
Der Plan war ehrgeizig: Ein neuer Store pro Jahr. Zehn Jahre, zehn Standorte, dann konsolidieren. Dass es anders kommen würde – viel schneller und viel chaotischer – ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Die Million-Euro-Wette auf Nordhausen – und der sofortige Lockdown
Der erste neue Store sollte in Nordhausen entstehen. Nicht gerade um die Ecke von den bestehenden Läden in Gera und Hermsdorf. Eineinhalb Stunden Fahrzeit. Aber der Vermieter war ein enger Freund von Daniel Resch. Familiäre Verbindungen. So entstehen manchmal die besten Geschäftsentscheidungen.
Im März 2020 war es soweit. Die Eröffnung am 7. März wurde ein voller Erfolg. Der Laden war brechend voll. Eine Million Euro hatte das Team in Ware und Ausbau investiert. Finanziert natürlich, die Zinsen waren damals noch günstig. Die Euphorie war riesig.
14 Tage später: Lockdown. Der brandneue Store musste schließen. Die Million lag in Form von Fahrrädern in einem leeren Laden. Keine Kunden, keine Einnahmen, aber laufende Kosten. Die Bank musste natürlich informiert werden. "Da braucht man schon Nerven", sagt Oliver im Rückblick trocken.
Aber statt in Panik zu verfallen, wurde das Team aktiv. Oliver und seine Partner gingen auf allen Ebenen in die Offensive – bis zu den Ministerien. Und tatsächlich: Thüringen erlaubte als eines der ersten Bundesländer nicht nur den Werkstattbetrieb, sondern auch den Handel mit Fahrrädern. Ein Glücksgriff, denn was wollten die Menschen während Corona? Wandern, joggen, Fahrrad fahren.
Der Store, der eigentlich pleite hätte gehen können, wurde zum Startpunkt einer Expansion, die alle Pläne über den Haufen warf.
Von zwei auf zehn Standorte – in der Krise wachsen
Aus "ein Store pro Jahr" wurden in den folgenden vier Jahren acht neue Standorte. Von Thüringen über Sachsen bis nach Sachsen-Anhalt. Gera (zwei Stores), Hermsdorf, Nordhausen, Weimar, Jena, Erfurt, Zwickau-Werdau, Plauen-Weischlitz, Dessau-Roßlau, Halle. Neun davon offizielle CUBE Stores. Der größte in Gera mit 1.750 Quadratmetern.
130 Mitarbeiter in der Hochphase. Ein Zentrallager in Hermsdorf. Eine eigene Radwelt Academy für die Schulung der Teams. Denn die wenigsten kamen aus der Fahrradbranche – viele waren Quereinsteiger aus Autohäusern, Banken, Versicherungen. "Sogar von der Omi" kamen welche, wie Oliver schmunzelnd erzählt.
Die Herausforderung war nicht nur das Tempo, sondern auch die Vorlaufzeit. Fahrräder werden ein Jahr im Voraus bestellt. Manchmal in der Corona-Zeit sogar zwei Jahre. "Ich muss wissen, was ich in zwei Jahren brauche", erklärt Oliver. "Und es stand da nur: Reaction in hell, mittel, dunkel. Keine Ahnung, ob das einen neuen Motor kriegt oder eine neue Schaltung."
Trotzdem trafen sie die richtigen Entscheidungen. Rückwirkend betrachtet "genau die richtigen Bestellungen", wie Oliver sagt. Die Stores liefen, die Kunden kamen, das Geschäft wuchs.
Menschen vor Profit – warum 1.000 Bewerbungen kamen
Was Radwelt.store in der Corona-Zeit anders machte als viele andere: Sie grenzten niemanden aus. Keine 2G-Regeln für Mitarbeiter. Geimpft oder ungeimpft – das war Privatsache. "Der Mensch ist nur zu verunsichern", sagt Oliver. "So eine soziale Ausgrenzung darf nie wieder passieren."
Das sprach sich herum. In den Jahren 2022/23 gingen über 1.000 Bewerbungen bei der HR-Abteilung ein. Aus allen Branchen. Viele aus der Gastronomie, die durch die Lockdowns ihre Jobs verloren hatten. Menschen, die ihr Hobby zum Beruf machen wollten. Menschen, die woanders ausgeschlossen wurden.
Heute beschäftigt Radwelt.store rund 120 Mitarbeiter. Sechs bis zehn pro Store, je nach Größe. In der Saison kommen Studenten und Saisonkräfte dazu. Die Academy in Hartmannsdorf schult kontinuierlich – nicht nur technisch, sondern auch im Verkauf. Denn ein Fahrrad zu verkaufen ist mehr als Technik. Es geht um Beratung, um das Einkaufserlebnis, um die Werkstattbindung danach.
Der Radwelt.fonds – Geld in die Region zurückgeben
Während viele Unternehmen in der Krise jeden Euro umdrehten, investierte Radwelt.store bewusst in soziale Projekte. Der Radwelt.fonds unterstützt Kindergärten, Schulen, Sportvereine, Blaulichtorganisationen. Hunderte von Projekten über die Jahre. Keine Gießkanne, aber breit gestreut.
"Wir geben der Region gern zurück", sagt Oliver. Ein festes Budget, gekoppelt an den Umsatz. Je besser das Geschäft läuft, desto mehr fließt in den Fonds. Und nein, es gibt keine ausgeklügelte Strategie im Sinne von "wir spenden an Schulen, damit Kinder früh ans Fahrrad gewöhnt werden." Es geht um echte Hilfe, auch dort, wo nichts zurückkommt.
Oliver selbst ist Mitglied im Lions Club, unterstützt zusätzlich soziale Projekte. Sein Sohn ist ehrenamtlicher Schiedsrichter im Fußball. "Er macht es aus sozialen Aspekten und aus Spaß", erklärt Oliver. Genau diese Haltung prägt das ganze Unternehmen.
Nach dem Rausch kommt die Konsolidierung
2024 war das schlechteste Jahr am Fahrradmarkt nach Corona. Der "Tsunami", wie Oliver es nennt. Zu viel Ware am Markt, zu viele Händler, die in der Euphorie zu viel bestellt hatten. Rabattschlachten mit 20, 30, 40 Prozent. Einige Händler gaben auf.
Radwelt.store nutzte das Jahr zur Konsolidierung. Prozesse straffen, Wildwuchs bereinigen, Hausaufgaben machen. Die Radwelt Gera, der Ur-Store von 1998, wurde geschlossen. Zu viele verschiedene Marken, zu viel Preisdruck. Der neue CUBE Store Gera in einem ehemaligen ATU-Gebäude – komplett durchsaniert, mit Teststrecke, Rutsche, Bäumen – übernimmt die Kunden.
Von 140 Mitarbeitern auf 120 reduziert. Schmerzhaft, aber notwendig. Schulden abbauen, Finanzmittel sichern, strategisch neu aufstellen. Die drei Geschäftsführer sitzen regelmäßig zusammen. "Manchmal gibt es Reibereien, aber es ist kein Krach", sagt Oliver. "Wir sind erwachsen genug zu sagen: okay, das ist jetzt die Richtung."
Ein sechsstelliges Budget wurde für die nächsten zwei Jahre freigegeben – für KI. Digitalisierung, Automatisierung, Effizienz. Radwelt.store ist nicht nur im stationären Handel stark, sondern hat auch einen Online-Shop. Der entspricht dem Volumen einer einzelnen Filiale und soll 2026 um die Anrainerstaaten erweitert werden.
Was ostdeutsche Unternehmer von Oliver lernen können
Oliver F. Zintl ist kein klassischer Gründer. Er ist Quereinsteiger, der mit über 40 die Branche gewechselt hat. Er ist kein Einzelkämpfer, sondern Teil eines Dreier-Teams. Und er hatte den denkbar schlechtesten Start – mitten in der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten.
Aber genau deshalb ist seine Geschichte so wertvoll. Sie zeigt: Krisen schaffen Chancen. Während andere in Schockstarre verfielen, expandierte Radwelt.store. Während andere Mitarbeiter aussperrten, stellten sie ein. Während andere nur ans Geld dachten, investierten sie in die Region.
Mitteldeutschland war kein Hindernis, sondern die Strategie. Bewusst nicht nach Leipzig oder Chemnitz, wo der Markt übersättigt ist. Sondern ins Umland, in die kleineren Städte, wo die Kunden dankbar sind für guten Service vor Ort. Von Nordhausen bis Plauen, von Dessau bis Hermsdorf.
Die nächsten Jahre? Weitere Expansion ist denkbar, aber mit mehr Ruhe. Nicht zwei, drei Stores pro Jahr, sondern gezielt und durchdacht. Die Konsolidierung muss abgeschlossen sein, die Prozesse müssen stimmen, die Verschuldung weiter sinken.
Aber eines ist klar: Oliver und seine Partner haben Lust weiterzumachen. Der Gedanke, der in den letzten vier Jahren gewachsen ist, lebt weiter. Mitteldeutschland braucht Unternehmer wie sie. Menschen, die im Krisenmodus nicht aufgeben, sondern Gas geben. Die soziale Verantwortung ernst nehmen. Die beweisen, dass man im Osten genauso erfolgreich sein kann wie im Westen.
Am Ende seines Interviews sagt Oliver: "Bleibt vor allen Dingen fair mit Menschen gegenüber, redet miteinander, grenzt keinen aus – dann macht das Leben auf jeden Fall Spaß."
Mehr braucht es nicht. Fairness, Dialog, Zusammenhalt. Und den Mut, auch mal eine Million in einen Laden zu stecken, der zwei Wochen später schließen muss. Weil man daran glaubt, dass es weitergehen wird.
Das ist Unternehmertum. Ostdeutsches Unternehmertum. Und es funktioniert.