Leidenschaft schlägt Businessplan: Zwei Erfurter Digitalunternehmer über erfolgreiche Gründung, KI-Optimierung und den Wert der Neugier - mit 2:N Podcaster Tobias Kallinich und Maik Grunitz

Die CeBIT 1993 – für die meisten heute ein längst vergessenes Relikt der Technikgeschichte. Für Maik Grunitz war sie der Funke, der alles veränderte. Sein Onkel, ein Mathematiker, nahm ihn mit zur größten Computermesse der Welt. Was der Jugendliche dort sah, ließ ihn nicht mehr los: der erste Multimedia-PC, der ein Video abspielte – in Schwarz-Weiß, wohlgemerkt. Star Wars auf zwei nebeneinanderstehenden Bildschirmen. Eine 40-Megabyte-Festplatte, die seine Schulkameraden für völlig unvorstellbar hielten. "Das war eine riesige Inspiration im Bereich Computer allgemein", erinnert er sich heute. "Da redete man noch nicht von Internetzeiten, das war da noch gar kein Thema."

Tobias Kallinich hatte einige Jahre später ein ähnliches Erweckungserlebnis auf derselben Messe. 1999 präsentierte die CeBIT den Kühlschrank, der im Internet Lebensmittel nachbestellen sollte – eine Vision, die bis heute nicht wirklich Realität geworden ist. Doch für den damaligen Auszubildenden bei den Vorwerk Teppichwerken war klar: Das Internet wird etwas Großes. Mit seinem 12.200er-Modem, das sich langsam ins Netz einwählte, baute er neben seiner Ausbildung die ersten Internetseiten. "Ich bin ein Kind des Internets", sagt Kallinich rückblickend.

Beide Männer, Jahrgang 1977, beide geprägt von der DDR-Sozialisation und der Wendezeit, beide fasziniert von den Möglichkeiten der Digitalisierung – und beide warnten gestandene Unternehmer eindringlich davor, auf das Internet zu setzen. "Das mit dem Internet sollte ich mir noch mal gut überlegen, das würde sich nicht durchsetzen", fasst Tobias die Ratschläge zusammen, die er zu Beginn seiner Selbstständigkeit erhielt. Er solle besser in der "Old Economy" bleiben.

Heute, über 25 Jahre später, leiten beide erfolgreiche Digitalagenturen in Erfurt und produzieren gemeinsam den Podcast "2:n" – ein Format, das sich mit Digitalisierung, Business, Gesellschaft und Bildung beschäftigt. Im Gespräch mit Eastside Heroes gewähren die beiden Unternehmer tiefe Einblicke in ihre Gründungsgeschichten, ihre Philosophie und ihre Sicht auf die Zukunft der digitalen Wirtschaft.

Der unkonventionelle Weg: Vom Technolabel zur Digitalagentur

Während Kallinich direkt aus seiner Ausbildung heraus den Schritt in die Selbstständigkeit wagte – am 1. November 1999, bereits seit Mai 1998 nebenberuflich aktiv –, nahm Maik einen Umweg. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und dem Wehrdienst bei den Feldjägern gründete er ein Technolabel für elektronische Musik. 19 Künstler betreute das Label, von Chill-Out bis Techno. Jeder brauchte eine Internetseite, einen Social-Media-Auftritt in den MySpace-Zeiten, als Facebook in Deutschland noch nicht einmal erreichbar war.

"Dann habe ich geguckt: Gibt es eigentlich etwas in Thüringen, das so etwas anbietet?", erinnert sich Maik. "Und da gab es nicht viele, nur zwei Stück damals als Anbieter, Dienstleister." Die Erkenntnis führte zum Umstieg: Aus dem Musiklabel wurde eine Digitalagentur, die all das Know-how, das Grunitz sich selbst beigebracht hatte – Webdesign, Online-Marketing, Grafikdesign, Social Media, digitaler Vertrieb – professionell anbot.

Was beide Gründungsgeschichten verbindet, ist der Moment des digitalen Aufbruchs. "Damals begann der digitale Vertrieb", erklärt Maik. "Stell dir vor, so eine Vinyl-Produktion kostet unheimlich viel Geld für ein Label. Und wir haben dann Musik verkauft in Südkorea und in Frankreich. Und da kommst du drauf und denkst drüber nach und sagst: Cool, du brauchst gar nicht mehr in Deutschland denken."

Leidenschaft schlägt Businessplan: Was junge Gründer heute brauchen

Auf die Frage, was sie jungen Gründern heute mitgeben würden, wird Tobias ungewöhnlich deutlich. "Es ging gar nicht darum, viel Geld zu verdienen oder irgendwie einen wirtschaftlichen Erfolg. Ich hab mir erst mal keinen Businessplan ausgerechnet, was ich wann wie damit verdienen kann", beschreibt er seinen Start.

Seine zentrale Botschaft: "Die Motivation zu gründen oder ein Geschäft aufzubauen sollte meiner Meinung nach wirklich so dieses eigene Interesse und die eigene Freude an dem Thema sein. Wenn ich dafür brenne, dann werde ich damit auch Menschen begeistern und auch meine Kunden begeistern. Wenn ich es nur der Kohle wegen mache, dann brauche ich ein Geschäftsmodell, was irgendwie ganz schnell skaliert und man ganz schnell wieder rausgehen kann."

Dieser Rat mag in Zeiten von Exit-Strategien und Venture Capital antiquiert klingen. Doch gerade die Langlebigkeit beider Agenturen – Kallinich seit 1999, Grunitz seit 2012 – unterstreicht die Kraft dieser Philosophie. "Brennt für das Thema und entwickelt dafür eine absolute Leidenschaft – das wird erfolgreich sein", fasst Tobias zusammen.

Dabei geht es nicht um naive Selbstverwirklichung ohne wirtschaftlichen Anspruch. "Am Ende muss man natürlich davon leben können und muss auch damit Geld verdienen", räumt er ein. Aber die intrinsische Motivation, die echte Faszination für das Thema, bildet das Fundament für nachhaltigen Erfolg.

Die nächste Revolution: Wie KI das Spiel neu definiert

Doch bei aller Nostalgie – das Gespräch dreht sich schnell um die Zukunft. Und die liegt für beide in der künstlichen Intelligenz. Besonders das Thema "Generative Engine Optimization" (GEO) treibt die beiden Digitalexperten um. "GEO ist die Optimierung für KI-Suchmaschinen", erklärt Maik. "ChatGPT, Gemini, Perplexity – da geht es darum, dass mein Content besser wahrgenommen werden kann."

Die Herausforderung für Unternehmen: Während klassisches SEO (Search Engine Optimization) darauf abzielt, in den Google-Suchergebnissen möglichst weit oben zu erscheinen, geht es bei GEO darum, von KI-Systemen als relevante Quelle erkannt zu werden. "Aktualitätsdaten, einzigartige Daten – das ist Gold der Zukunft", betont Maik.

Drei zentrale Faktoren kristallisieren sich für die KI-Optimierung heraus:

Erstens: Query-Coverage und Themenabdeckung. Unternehmen müssen die relevanten Fragen in ihrer Branche identifizieren und umfassend beantworten. "Es gibt schon Tools, die das analysieren können", erklärt Maik. "Was sind die Trends für 2026? Welche Themenbereiche muss ich abdecken?"

Zweitens: Domain-Autoritäten. Ein radikaler Gedanke: Statt eine große Unternehmenswebsite mit allen Dienstleistungen zu betreiben, sollten Firmen über spezialisierte Domains nachdenken. "Ich habe fünf Dienstleistungen in meinem Unternehmen und mache jetzt fünf Domain-Verarbeitungen", illustriert Maik Grunitz. "Diese bieten einzigartig diesen einzigartigen Content an, optimiert nur für das eine Produkt – und nicht die eierlegende Wollmilchsau als große Unternehmensseite."

Drittens: Backlinks, Backlinks, Backlinks. "Das ist das Problem des Gründers", gibt Maik zu bedenken. "Ich habe keine Backlinks, ich habe eine neue Domain, super Geschäftsidee – aber null Verlinkungen." Bei OpenAI fehlen die Nutzerdaten, die Google zur Verfügung stehen. "Jetzt muss ich das kompensieren mit dem Thema: Ist die Quelle wirklich relevant? Verweisen viele darauf, ist das relevanter Content?"

Die Erkenntnis: Wer heute ein Unternehmen gründet oder digital wachsen will, muss nicht nur in klassisches SEO investieren, sondern sich bereits jetzt auf die KI-gesteuerte Informationslandschaft vorbereiten.

Ostdeutsche Identität: Zwischen Abgrenzung und Integration

Interessant wird das Gespräch, als es um die Frage geht: "Was macht euch zu Eastside Heroes?" Die Antworten fallen differenziert aus und geben Einblick in eine Generation, die zwischen zwei Welten aufwuchs.

Tobias reflektiert: "Das Thema Ostdeutschland hat für mich eine andere Bedeutung bekommen in den letzten Jahren. Ich habe mich als Gesamtdeutscher gesehen. Ich bin Deutscher, West-Ost war für mich irgendwann mal durch. Und das ist doch schon so ein Thema der Identität, wo ich jetzt sagen würde: Ich habe einen anderen Bezug mittlerweile dazu, Ostdeutscher zu sein."

Wichtig ist ihm die Abgrenzung: Es geht nicht um Nationalismus oder Abschottung. "Das ist wirklich die Identität, wo wir herkommen: Ostdeutschland." Seine Definition von "Hero" ist bescheidener, als man vermuten würde. "Als Held, weiß ich nicht, ob ich mich jetzt als Hero bezeichnen würde", gibt er zu. Aber jeder Selbstständige trage "zu einem funktionierenden, marktwirtschaftlichen System bei."

Tobias sieht es noch kritischer: "Wir sind über 30 Jahre nach der Wende mittlerweile, und ich sehe keinen Unterschied zwischen Westdeutsch und Eastside. Ich bin deutscher Part, nicht getrennt." Für ihn gibt es "kein Ostdeutsch, sondern einfach ein schönes Deutschland."

Diese unterschiedlichen Perspektiven auf die regionale Identität spiegeln eine breitere gesellschaftliche Debatte wider. Doch einig sind sich beide darin, dass es nicht um geografische Abgrenzung geht, sondern um die Würdigung derjenigen, "die wirklich sagen: Ich gehe in meine Wirksamkeit, ich will Dinge bewegen, ich will Dinge machen", wie Tobias formuliert.

Die Kraft der Selbstverwirklichung: Ein Appell an alle Gründer

Was beide Unternehmer eint, ist ihr Glaube an die transformative Kraft der Selbstverwirklichung. "Das sind für mich schon mal Helden", sagt Tobias über Gründer, "und zum anderen wirklich auch Menschen, die in ihrer Selbstständigkeit oder in ihrer Selbstverwirklichung – das kann auch in einem Angestelltenverhältnis sein, das müssen nicht nur Unternehmer sein – sagen: Okay, ich verwirkliche mich selbst, dann habe ich tatsächlich auch mein Leben aktiv in der Hand."

Diese Haltung steht im Kontrast zu einer weit verbreiteten Opfermentalität. Tobias spricht es direkt an: nicht die, "die sagen: ach was, ich kann ja nur hier sitzen, aber ich kann keine Ahnung, kann ich ja nichts dafür, kann ich ja nichts machen."

Die Botschaft ist klar: In einer Zeit rasanter technologischer Veränderungen, in der KI ganze Geschäftsmodelle auf den Kopf stellt, in der die Regeln des digitalen Marketings sich fundamental wandeln, braucht es mehr denn je Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, zu lernen und zu gestalten.

Beide Digitalunternehmer verkörpern diese Haltung. Sie haben die Dotcom-Blase überlebt, den Aufstieg der sozialen Medien mitgestaltet, den Mobile-First-Wandel gemeistert und stehen jetzt an der Schwelle zur KI-Ära. Ihre Agenturen sind nicht nur Dienstleister, sondern Seismografen für die digitale Transformation der ostdeutschen Wirtschaft.

Neugier als Lebensprinzip

"Ja, unbedingt Neugier", antwortet Tobias auf die Frage nach dem wichtigsten Erfolgsfaktor. "Das war immer mein Antrieb gewesen." Diese Neugier trieb ihn 1998 zur CeBIT, ließ ihn trotz aller Warnungen den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, und hält ihn heute wach in einer Branche, die sich schneller wandelt als die meisten anderen.

Tobias ergänzt diese Perspektive durch seine Rolle als Dozent an allen IHK-Standorten in Thüringen, als Lehrbeauftragter für Digitalisierung und als Gründer des größten Online-Marketing-Meetups in Thüringen. Wissen teilen, Netzwerke aufbauen, gemeinsam lernen – das sind die Prinzipien, die beide antreiben.

Ihr gemeinsamer Podcast "2:n" – wobei das "n" für die nicht endende Vielfalt der Gäste und Themen steht – ist Ausdruck dieser Haltung. "Wir belehren die Welt nicht, sondern diskutieren offen und inspirierend", beschreiben die Macher ihr Format. Das Motto: "Zuhören. Nachdenken. Umsetzen."

Die Zukunft gestalten: Ein Aufruf zum Handeln

Zum Abschluss des Gesprächs wird deutlich: Beide Unternehmer blicken optimistisch in die Zukunft. Trotz aller Herausforderungen, trotz regulatorischer Hürden, trotz Fachkräftemangel und digitaler Disruption sehen sie mehr Chancen als Risiken.

Ihre Botschaft an alle, die über Gründung nachdenken, die in ihrer Karriere feststecken oder die einfach nach Orientierung suchen: Findet eure Leidenschaft. Investiert in eure Neugier. Bleibt am Ball. Die digitale Welt bietet heute mehr Möglichkeiten denn je – man muss sie nur ergreifen.

Als die CeBIT Anfang der 90er Jahre Maik Grunitz zum ersten Mal die Augen öffnete, konnte niemand ahnen, welche Entwicklung die Digitalisierung nehmen würde. Der Multimedia-PC, der mühsam ein Schwarz-Weiß-Video abspielte, wirkt aus heutiger Sicht rührend antiquiert. Und doch war er der Funke für eine Karriere, die bis heute anhält.

Die 40-Megabyte-Festplatte, die damals als unvorstellbar groß galt, passt heute millionenfach auf einen USB-Stick. Das Modem, das sich mit 12.200 Bit pro Sekunde ins Internet einwählte, wurde durch Gigabit-Verbindungen ersetzt. Der Kühlschrank, der Lebensmittel nachbestellt, steht in manchen Haushalten – auch wenn er sich nicht durchgesetzt hat.

Doch die Prinzipien, die Tobias Kallinich und Maik Grunitz zum Erfolg führten, haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren: Leidenschaft schlägt Businessplan. Neugier schlägt Bedenkenträgerei. Handeln schlägt Abwarten. Und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen – sei es das Internet der 90er Jahre oder die KI-Revolution von heute – ist der Schlüssel zum Erfolg.

Wer heute gründet, steht vor anderen Herausforderungen als 1999. Die Welt ist komplexer geworden, die Konkurrenz globaler, die Technologie mächtiger. Doch die Grundprinzipien bleiben dieselben. Und vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis aus dem Gespräch mit den beiden Erfurter Digitalunternehmern: Der Mut zur Selbstständigkeit, die Kraft der Selbstverwirklichung und die Freude am Gestalten sind zeitlos.

"Ich hoffe, dass viele durchgehalten haben, dass das, was wir auch sagen, durchaus vielleicht auch hörenswert ist", sagt Tobias bescheiden am Ende des Gesprächs. Das ist es ohne Zweifel. Denn in ihren Geschichten steckt mehr als nur unternehmerischer Erfolg. Es sind Geschichten von Menschen, die nicht nur Veränderung erlebt, sondern aktiv mitgestaltet haben. Und genau solche Menschen braucht die Wirtschaft – in Ostdeutschland und überall sonst.

Sebastian Meier

Als Brückenbauer zwischen Innovation und Tradition prägt Sebastian Meier die Zukunft des ostdeutschen Unternehmertums. Seine außergewöhnliche Expertise wurzelt in zwei Welten: Als ehemaliger Leiter des Thüringer Zentrums für Existenzgründungen erkannte er die Bedeutung starker Netzwerke und brachte erstmals die relevanten Akteure der Gründungsszene an einen Tisch. Diese neugeschaffenen Synergien zwischen Wirtschaft, Forschung und Förderung wirken bis heute nach. Als Gründer führte er selbst die myGermany GmbH von der Startup-Vision zum erfolgreichen internationalen Bestandsunternehmen.

Diese einzigartige Kombination aus Startup-DNA und Institutionserfahrung macht ihn zum gefragten Sparringspartner für Unternehmer und Innovatoren. Mit EASTSIDE HEROES verfolgt er heute eine klare Mission: Die Transformation Ostdeutschlands zum dynamischen Wirtschaftsstandort der Zukunft. Sein 15 Jahre aufgebautes Netzwerk aus über 500 aktiven Unternehmenskontakten nutzt er, um etablierte Player mit innovativen Scale-ups zu verbinden und echte Wertschöpfung zu generieren.

Als Nerd für Künstliche Intelligenz und Automatisierung berät Sebastian regelmäßig Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation.

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