Karlheinz Brandenburg (Brandenburg Labs): Wie ein Thüringer Professor mit MP3 die Welt veränderte — und jetzt das Holodeck baut
Wir haben im EASTSIDE HEROES Podcast schon mit vielen beeindruckenden Unternehmerinnen und Unternehmern gesprochen. Aber dieses Gespräch war für mich persönlich anders. Vielleicht, weil sich hier ein Kreis schließt. Vielleicht, weil mir während dieses Interviews wieder bewusst wurde, wie viel Genialität manchmal direkt vor unserer Nase liegt – und wir sie erst Jahre später erkennen.
Prof. Karl Heinz Brandenburg und Moritz zum Gespräch in den Brandenburg Labs in Ilmenau | © EASTSIDE HEROES
Denn was viele nicht wissen: Ich habe selbst an der TU Ilmenau studiert. Und damals saß ich – nichtsahnend – in den Vorlesungen eines Mannes, der zu dieser Zeit bereits die Musikwelt revolutioniert hatte – und ich zwischen 2005 und 2009 dort studierte, ohne überhaupt zu wissen, wer da vorne eigentlich stand. Erst irgendwann fiel mir auf: Moment … Prof. Dr. Karlheinz Brandenburg – ist das nicht der MP3-Brandenburg?
Ich frage mich bis heute, wie es möglich ist, dass die Universität diese Koryphäe nie als das kommuniziert hat, was sie ist: ein Weltveränderer. Warum die ganze Stadt nicht längst als „Akustik-Stadt Ilmenau“ gebrandet wurde – so wie Jena sich stolz als Photonik-Hochburg positioniert. Denn Brandenburg ist eine dieser Persönlichkeiten, für die Städte Tourismus-Einrichtungen bauen würden. In Ilmenau dagegen sitzt man einfach in seiner Vorlesung und denkt: „Nette Übung heute.“
Umso mehr hat es mich gefreut, all die Jahre später mit ihm über genau diese Geschichte zu sprechen. Eine Geschichte, die im Kleinen beginnt – und in der globalen Kultur endet. Eine Geschichte voller Klarheit, Mut und dem Unternehmergeist, der sich hier in Ilmenau niedergelassen hat, viele Studierende inspiriert, einen Venture-Arm sowie viele Akustik-Jobs ermöglicht hat.
Eine Kindheit voller Neugier
Als Brandenburg mir erzählt, wie alles begann, wird sofort klar: Hier spricht jemand, der schon als Kind auf Frequenzbereiche anders reagiert hat als andere. Blockflöte, Geige, Klavier, Gitarre am Lagerfeuer. Amateurfunklizenz. Selbstgebaute Verstärker, die er an Freunde verkaufte. Pfadfinder-Gruppenleiter.
Alles Hinweise auf etwas, das später in seiner Karriere eine riesige Rolle spielen sollte: eine unstillbare technische Neugier.
Er sagt: „Ich wollte immer wissen, wie Dinge funktionieren – und warum.“
Genau dieser Satz beschreibt auch viele der Unternehmerinnen und Unternehmer, mit denen wir im EASTSIDE HEROES Netzwerk arbeiten. Neugier als Grundenergie.
In unserem Gespräch erzählt Brandenburg eine Anekdote, die zeigt, wie absurd manchmal Lebenswege entstehen: Ein Pfadfinderfreund vermittelte ihn in die Forschungsgruppe an der Uni Erlangen. Ein Zufall – der Startschuss für MP3.
Viele Gründergeschichten beginnen genau so. Keine Pläne. Kein Manifest. Sondern Menschen, die auftauchen und Türen öffnen.
„Musik über Telefonleitungen schicken“ — die unmögliche Aufgabe
Was mich besonders beeindruckt hat: Sein Doktorvater gab ihm ein Forschungsproblem, das Experten damals für völlig unmöglich hielten. Musik digital über Telefonleitungen zu übertragen.
Brandenburg lächelt und sagt: „Der Patentprüfer meinte: ‚Dinge, die nicht gehen können, kann man nicht patentieren.‘ Und ich dachte: ‚Mag sein – ich probiere es trotzdem.‘“
Das ist der Unternehmergeist, den wir täglich predigen. Nicht trotzig. Nicht größenwahnsinnig. Sondern wissenschaftlich neugierig.
MP3 war nicht die Geschichte eines genialen Einfalls. Sondern die Geschichte tausendfacher Iterationen. Brandenburg spricht von 60 Minuten Rechenzeit für 20 Sekunden Klang. Von sechs Wochen durchlaufender CPU für Qualitätsmessungen.
Und natürlich von Tom’s Diner, dem A-cappella-Song, der MP3 beinahe scheitern ließ – und am Ende rettete. „Es hat sich furchtbar angehört“, sagt er lachend. Er erzählt, wie das Team in Erlangen einen Kollegen auf einer improvisierten Sänfte um das Institut trug, als der erste Hardware-Decoder funktionierte. Diese Mischung aus Exzellenz und Menschlichkeit zieht sich durch seine gesamte Karriere.
Dass MP3 die Welt eroberte, war kein Marketingplan. Es war ein Kontrollverlust. Ein australischer Student kaufte den Encoder mit einer gestohlenen Kreditkarte, baute ein GUI und stellte ihn „aus Versehen“ weltweit kostenlos online – mit der Notiz: „Thank you Fraunhofer.“ Brandenburg sagt dazu: „Damit war unser Geschäftsmodell nicht haltbar.“ Doch dieser Hack machte MP3 zur Weltnorm. Der erste große digitale Schneeballeffekt.
Und das Learning, das wir als Gründer mitnehmen können: Verbreitung schlägt Perfektion.
Warum er aus der Wissenschaft heraus unternehmerisch wurde
An einer Stelle im Interview sagt Brandenburg einen Satz, den ich persönlich herausragend finde: „Ich wollte nicht nur Veröffentlichungen. Ich wollte Geräte, die genutzt werden.“ Das ist der Kern echter Innovation. Nicht Theorie – Anwendung. Nicht Papers – Produkte. Brandenburg war nie nur Forscher. Er war immer Unternehmer im Herzen. Und vielleicht erklärt das auch, warum Ilmenau für ihn passte: Ein Ort voller Talente, frei genug für neue Wege, ohne überstrukturierte Systeme.
Für mich war es ein besonderer Moment, ihn über Ilmenau sprechen zu hören – meine eigene Uni, mein eigener Ort. Brandenburg erzählt, wie er die Chance bekam, dort ein Fraunhofer-Institut aufzubauen. Wie er die Region als ruhig, fokussiert und talentiert wahrgenommen hat. Wie viel Gestaltungsspielraum er dort fand. Und dann sagt er diesen Satz: „Innovation kann überall entstehen – aber die Ruhe zum Denken gibt es in Ilmenau.“ Der Osten ist ein unterschätzter Innovationsraum. Kein Lärm, keine Hybris, keine Überhitzung. Sondern Präzision, Tiefe und Teamarbeit. Genau das, was wir mit EASTSIDE HEROES immer wieder sichtbar machen wollen.
Hier wird am akustischen Holodeck entwickelt. In den Räumen von Brandenburg Labs. | © ESH
Warum er mit über 60 Jahren noch ein Startup gründete
Was mich wirklich berührt hat: Brandenburg sagte, er habe Brandenburg Labs gegründet, weil er „die Fehler mal selbst machen wollte“. Da sitzt jemand, der die Welt verändert hat – und der mit 60+ noch einmal losgeht. Nicht, weil er muss. Sondern, weil er will. Brandenburg Labs arbeitet heute am akustischen Holodeck. Ein System, das wir alle in 5–10 Jahren nutzen könnten. Und parallel baut er Brandenburg Ventures, um junge Startups zu unterstützen. Genau diese Demut und Neugier ist es, die ihn für mich zu einem wahren EASTSIDE HERO macht.
Wenn ich das Gespräch in einem Satz zusammenfassen müsste, wäre es dieser: Wahre Innovation entsteht nicht aus Kapital oder Standort – sondern aus Neugier, Teamgeist und der Bereitschaft, das Unmögliche einfach zu versuchen.
Brandenburg ist einer dieser Menschen, die beweisen, dass Weltinnovationen aus Thüringen kommen können. Dass Ostdeutschland ein unterschätzter Zukunftsstandort ist. Dass Bescheidenheit und Größe sich nicht ausschließen. Und dass es manchmal 15 Jahre dauert, bis man versteht, neben wem man damals eigentlich im Hörsaal saß. Dieser Podcast steckt voller Aha-Momente, Demut und Inspiration. Und je länger man zuhört, desto klarer wird: Das ist nicht nur die Geschichte von MP3. Das ist eine Meisterklasse in Unternehmertum.
Unbedingt reinhören. Es lohnt sich wieder einmal.