„Wir sind eine junge Wirtschaft — und das ist unsere größte Chance.“ Christian Schädlich (ZeTT-Radar)

Wir bei EASTSIDE HEROES sprechen oft über Unternehmertum im Osten, über Mut, Wandel und Haltung. Doch selten hatten wir jemanden zu Gast, der diese Themen mit solcher analytischen Tiefe und zugleich ehrlicher Begeisterung betrachtet wie Christian Schädlich – Wirtschaftssoziologe, Forscher und Gründer des ZeTT-Radar, dem ersten echten Geschäftsklimaindex für Thüringen.

Christian Schädlich (ZeTT-Radar): Thüringer Geschäftsklimaindex

Schädlich hat etwas geschaffen, das in anderen Bundesländern längst selbstverständlich ist: ein Instrument, das sichtbar macht, wie es Unternehmen wirklich geht. Über 600 Geschäftsführer:innen aus Thüringen nehmen jedes Quartal an seiner Befragung teil. Aus ihren Antworten entsteht ein detailliertes Stimmungsbild – zu Lage, Investitionen, Beschäftigung, Herausforderungen.

Die Idee kam während der Corona-Zeit. „Ich war überrascht, dass es so etwas bei uns gar nicht gibt. Wie will man Wirtschaft gestalten, wenn man sie nicht misst?“, sagt Schädlich. Während Bayern und Baden-Württemberg längst eigene Wirtschaftsinstitute haben, blieb Thüringen datenblind. Der ZeTT-Radar änderte das – und wurde zu einem Werkzeug, das nicht nur Zahlen liefert, sondern Diskussionen anstößt.

Aktuell zeigt der Index ein geteiltes Bild. Die Wirtschaft beschreibt Schädlich als „antriebs- und richtungslos“, besonders in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen. Fehlende Aufträge, Energiepreise, hohe Personalkosten – die großen Themen sind bekannt, ihre Wirkung aber hartnäckig. „Wenn dieselben Herausforderungen über Jahre oben bleiben, dann ist das ein strukturelles Problem“, erklärt er.

Doch zwischen all den Krisenindikatoren taucht auch eine Branche auf, die Hoffnung macht: die Digitalwirtschaft. Sie investierte in den letzten Quartalen trotz negativer Geschäftslage weiter – gegen den Trend. „Das zeigt mir, dass dort Zukunftsglaube existiert“, sagt Schädlich. „Investitionen sind immer ein Zeichen von Vertrauen – in sich selbst und in den Standort.“

„Viele Unternehmer:innen im Osten warten noch darauf, dass sich etwas ändert. Aber Wirtschaft entsteht durch Handeln — nicht durch Hoffnung.“

Das Faszinierende an Schädlichs Arbeit ist sein Blick hinter die Zahlen. Für ihn sind sie keine bloßen Kurven, sondern Ausdruck einer Mentalität. „Viele Unternehmer:innen im Osten warten noch darauf, dass sich etwas ändert. Aber Wirtschaft entsteht durch Handeln – nicht durch Hoffnung.“

Damit trifft er einen Nerv. Denn Thüringen – und der Osten insgesamt – steht ökonomisch noch immer in einer besonderen Lage. Schädlich spricht von einer „jungen Wirtschaft“, die erst seit 30 Jahren in marktwirtschaftlichen Strukturen agiert. „Viele unserer Institutionen wurden kopiert, nicht entwickelt. Ihnen fehlt die organische Legitimation“, sagt er.

Während westdeutsche Strukturen über Jahrzehnte gewachsen sind, musste im Osten vieles gleichzeitig entstehen: Unternehmen, Medien, Verwaltungen, Hochschulen. Eine Gesellschaft im Aufbau – ohne stabile Eliten, ohne gewachsene Netzwerke. „In Thüringen gibt es kein überregionales Medium wie die FAZ oder Zeit – das bedeutet weniger Sichtbarkeit, weniger Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist im 21. Jahrhundert eine wirtschaftliche Währung.“

„In Thüringen gibt es kein überregionales Medium wie die FAZ oder Zeit — das bedeutet weniger Sichtbarkeit, weniger Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist im 21. Jahrhundert eine wirtschaftliche Währung.“

Was Schädlich beschreibt, ist mehr als eine wirtschaftliche Analyse – es ist ein soziologischer Blick auf ein gesamtdeutsches Experiment. Nach der Wende wurde der Osten neu aufgebaut. Doch vieles kam von außen. Institutionen, Gesetze, Strukturen – „Copy & Paste“, wie er es nennt. „Aber wenn Institutionen nicht aus eigenen Problemen entstehen, fehlt ihnen der Bezug zur Realität. Sie wirken dann wie Fremdkörper.“

Gerade deshalb plädiert Schädlich für einen „Reifeprozess“ der ostdeutschen Wirtschaft. Nicht in Form eines Aufholrennens, sondern als bewusste Selbstentwicklung: eigene Institutionen, eigene Netzwerke, eigene Sprache. Er nennt das eine „Professionalisierung des sozialen Raums“. Wirtschaft, Verwaltung und Politik müssten stärker zusammenrücken – aber auf Augenhöhe, mit echter Rückkopplung in die Praxis.

Das gilt auch für die Politik. „In Thüringen kennen viele Unternehmer:innen ihren Landtagsabgeordneten gar nicht“, sagt er. In Bayern oder Baden-Württemberg sei das anders – dort pflege man aktiv Kontakte, um regionale Interessen zu vertreten. „Politikverdrossenheit ist gefährlich. Sie erzeugt Ohnmacht. Wer etwas verändern will, muss selbst Verantwortung übernehmen.“

Was mich im Gespräch mit Christian besonders beeindruckt hat, ist sein Pragmatismus. Er verweigert sich einfachen Narrativen. Für ihn ist der Osten weder Opfer noch Problemfall – sondern ein unvollendetes Projekt. Und das ist seine Stärke. „Wir sind in einem Aufbauprozess. Wir müssen nicht über Defizite sprechen, sondern über Potenziale. Aber dafür brauchen wir Mut – auch zum Konflikt.“

Dieser Mut ist für Schädlich der zentrale Hebel. Er ruft Unternehmer:innen dazu auf, sich stärker einzubringen, ihre Meinung zu äußern, zu diskutieren – auch wenn es unbequem wird. „Konstruktiver Streit erzeugt Dynamik. Harmonie ist kein Erfolgsmodell.“

Ein Zitat bleibt besonders hängen:

„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen. Wer gestalten will, muss anecken.“

Damit spricht er das aus, was viele denken, aber selten sagen: Thüringen und Ostdeutschland brauchen mehr Debatte, mehr Selbstbewusstsein – und weniger Angst vor Reibung.

Das ZeTT-Radar ist dabei mehr als eine Studie. Es ist ein Symbol für Selbstermächtigung. Ein Werkzeug, mit dem Thüringen seine eigene Wirtschaft lesen lernt. „Ich wollte gar nicht Interessen vertreten, ich wollte sie erst mal verstehen“, sagt Schädlich.

Diese Haltung – neugierig, datengetrieben, aber zutiefst regional verwurzelt – macht ihn zu einem echten EASTSIDE HERO. Weil er das tut, was unsere Marke antreibt: die Dinge sichtbar machen, die sonst unsichtbar bleiben.

In einer Zeit, in der viele Wirtschaftsnarrative von außen kommen, zeigt Schädlich, dass die Antworten oft im eigenen Land liegen. Zwischen Mittelstand und Start-up, zwischen Erfurt und Jena, zwischen Tradition und Innovation.

Am Ende des Gesprächs beschreibt er seine Vision so:

„Wenn wir es schaffen, unsere Wirtschaft lauter, vernetzter und selbstbewusster zu machen, dann haben wir gewonnen. Wir brauchen keine neuen Programme – wir brauchen Bewegung.“

Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Ostdeutschland ist nicht „abgehängt“, sondern in Bewegung. Und Christian Schädlich liefert die Daten, die diesen Wandel sichtbar machen – ehrlich, unaufgeregt und auch im Gespräch durch ihn in Person.

Wer verstehen will, wie Wirtschaft, Gesellschaft und Zukunft im Osten wirklich zusammenhängen – und warum Zahlen manchmal mehr Mut machen können als jede Parole – sollte sich diese Folge anhören.

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Moritz

Moritz ist Mitgründer von EASTSIDE HEROES und der E-Commerce-Marke “No Coffee”. Zuvor war er CEO der Influencer-Marketing-Software IROIN®. Mit seiner Expertise im Digital- und Influencer-Marketing sowie in SaaS-Geschäftsmodellen treibt er die digitale Transformation und Vernetzung von Unternehmen in Ostdeutschland voran. Er hat ein tiefes Verständnis für die Herausforderungen und Chancen der Region und setzt sich leidenschaftlich dafür ein, Ostdeutschland als dynamischen Wirtschaftsstandort zu etablieren und innovative Lösungen voranzutreiben.

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