Ehemalige Thyssenkrupp-Ingenieurin Anna Meinicke macht Erfurts Dächer essbar – und plant jetzt die 4.000-m²-Sensation

Sie tauschte Konzerngehalt gegen Gemüsebeete, Projektmanagement gegen Permakultur, und Thyssenkrupp Steel gegen 1.500 Quadratmeter alte Bahngleise in Erfurt. Anna Meinckes Geschichte zeigt: Die besten Geschäftsideen wachsen manchmal auf 40 Quadratmetern Dachterrasse – man muss ihnen nur fünf Jahre Zeit geben.

Der Moment, in dem alles anfing

Duisburg, 2012. Eine junge Umweltingenieurin zieht in eine kleine 2-Zimmer-Wohnung. Corporate-Job bei Thyssenkrupp Steel, Forschung und Entwicklung, alles durchgetaktet, für jedes Projekt gibt es ein QM-Dokument. Aber da ist auch etwas anderes: Eine 40 Quadratmeter große Dachterrasse. Kahl. Grau. Ungenutzt.

"Ich dachte, okay, was machst du jetzt mit dieser Fläche?", erinnert sich Anna Meincke heute. "Dann kam es quasi geistesblitzartig: Ich versuche da jetzt ein bisschen Gemüse drauf anzubauen."

Was folgte, war kein Startup-Sprint. Keine 90-Tage-Challenge. Kein Pitch vor Investoren. Sondern fünf Jahre geduldiges Experimentieren. Fünf Jahre, in denen aus Neugier Expertise wurde. Aus einem Hobby ein Proof of Concept. Aus einer Dachterrasse die Blaupause für ein Geschäftsmodell, das heute zeigt: Städte können grün UND essbar sein – und dabei wirtschaftlich funktionieren.

Die unwahrscheinliche Heldin der urbanen Landwirtschaft

Anna Meincke ist das, was man eine "Erfurter Puffbohne" nennt – ein echtes Erfurter Original. Geboren 1988, aufgewachsen in einer Familie, in der Gärtnern im Blut liegt. Ihre Mutter ist Floristin, beide Großelternpaare studierten Gartenbau, der Vater ist leidenschaftlicher Kleingärtner. "Grünes Blut fließt mir durch meine Familie in die Adern", sagt sie.

Aber der Weg zur Gründerin von Dachgemüse war alles andere als geradlinig. Nach dem Abitur erst einmal ein Jahr orientieren, rumjobben, Praktika machen. Dann das Studium in Zittau: Umweltorientierte Unternehmensführung und Technischer Umweltschutz. "Ich wollte noch ein Diplom machen", erklärt Anna. "Das war die sichere Bank – deutscher Diplom-Ingenieur, das ist was Richtiges."

2012 folgte der Sprung ins Ruhrgebiet. Acht Jahre Thyssenkrupp Steel Europe. F&E für Automobilkomponenten, Umweltschutz, Projekt- und Qualitätsmanagement. Eine Umweltingenieurin im Herzen der Schwerindustrie – ein Widerspruch?

"Stahl ist tatsächlich der nachhaltigere Werkstoff", verteidigt Anna ihren damaligen Arbeitgeber. "Wenn du es mit Aluminium oder Carbonfasern vergleichst – weil es in der Herstellung weniger CO2-intensiv ist und 100 Prozent recycelbar." Die Arbeit war spannend. Der Großprojekte faszinierend. Aber da war immer diese Dachterrasse.

Das 5-Jahres-Experiment: Wenn Geduld zur Superkraft wird

Was Anna auf diesen 40 Quadratmetern lernte, lässt sich nicht aus Gründer-Ratgebern lernen. "Ich habe direkt übertrieben", lacht sie heute. "Die ganze Dachterrasse mit Kübeln vollgestellt. Nicht nur Tomaten und Gurken – ich wollte alles ausprobieren. Süßkartoffeln, seltene Kräuter, die es im Supermarkt nicht gibt."

Die Erfolgsquote? "Erstaunlich gut. Für jemanden mit wenig Vorkenntnissen."

Aber das Wichtigste war etwas anderes: Anna ließ sich Zeit. Fünf Jahre. Fünf Saisons. Fünf Zyklen von Säen, Wachsen, Ernten, Lernen. Keine überstürzte Kündigung nach der ersten guten Ernte. Kein "Ich mache jetzt mein Hobby zum Beruf"-Moment nach einem erfolgreichen Sommer.

Stattdessen: Systematischer Kompetenzaufbau. Nebenbei einen Blog starten. Erfahrungen fotografieren und teilen. Eine Instagram-Community aufbauen (2.000 Follower als Mikro-Influencerin). Erste Medienanfragen. Ein Fernsehbeitrag.

"Es war ein reiner Selbstläufer", sagt Anna. "Ich las Bücher über das Gärtnern, verbrachte meine freie Zeit auf der Dachterrasse, buddelte in der Erde und baute immer mehr neue, unbekannte Gemüsesorten an."

In der Startup-Welt würde man das "Product-Market-Fit" nennen. Anna nennt es anders: "Ich wollte einfach diese Zutaten haben, die es im Supermarkt nicht gab."

Die Rückkehr – und der Tiefpunkt, der alles veränderte

2020, nach acht Jahren im Ruhrgebiet, stand für Anna fest: "Ich will zurück nach Erfurt. Wenn man am Wochenende durch die Altstadt läuft, fühlt sich das für mich wie Urlaub an. So viel Kunst und Kultur, Gastronomie und Grün auf einem Haufen. Erfurt ist so kompakt – und genau das macht die Stadt für mich aus."

Aber wie gründet man, wenn man eine Wohnung braucht? Vermieter wollen Arbeitsverträge sehen. Also erst einmal: Normaler Job in Erfurt. Sicheres Gehalt. Und dann der Moment, den jeder Gründer kennt, der aus Frustration zur Tat geschritten ist.

"Ich war mit dem Job so unglücklich", erzählt Anna offen. "Ich habe da so viel Energie verbrannt und nichts bewirkt. Und dann wurde diese Idee der Selbstständigkeit, die immer im Hinterkopf war, immer stärker. Ich dachte: Die Energie, die ich hier verbrenne – wenn ich die in mein eigenes Business stecke, kann ich viel mehr bewirken."

Es war, diplomatisch ausgedrückt, "ein Unternehmen, das in der Zeit etwas stehen geblieben ist". Aber rückblickend war es der Katalysator. Der fehlende Motivationsschub. "Eigentlich ist es ein bisschen aus dieser Not heraus", gibt Anna zu.

Januar 2022: Dachgemüse wird offiziell gegründet. Ein Einzelunternehmen. 1.500 Quadratmeter auf alten Bahngleisen neben dem Erfurter Kontor. Keine Förderung. Kein klassischer Startup-Zugang zu Agrarsubventionen (zu klein für konventionelle Programme). Bootstrapping pur.

Das Drei-Säulen-Modell: Wie man Risiko intelligent verteilt

"Ich wollte das geschäftliche Risiko von Beginn an streuen", erklärt Anna ihre Strategie. Was folgte, war kein typisches Landwirtschafts-Startup, sondern ein hybrid konstruiertes Geschäftsmodell:

Säule 1: Die Urban Farm (1.500 m²)
Über 70 verschiedene Gemüse- und Kräutersorten. Gemüse-Abos von Mai bis Oktober für 19,59-20,75 Euro im Monat. Wöchentliche Lieferung per Lastenrad – klimaneutral. Ein Hofstand jeden Donnerstag. Belieferung gehobener Restaurants in Erfurt. Der Fokus: Alte Sorten, Raritäten, Qualität statt Masse.

Säule 2: Der Online-Shop
Bio-zertifiziertes Saatgut, Jungpflanzen für urbane Hobbygärtner, bundesweiter Versand. Skalierbar ohne Flächenexpansion.

Säule 3: Wissenstransfer
Workshops zu Urban Gardening, Hofführungen (jeden ersten Sonntag im Monat), Corporate Team-Events, Vorträge, ein veröffentlichtes Buch ("Stadtgemüse", Löwenzahn Verlag 2023).

Die Philosophie dahinter: "Landwirtschaftliche Betriebe sind anfällig für Wetterschwankungen und saisonale Nachfrage. Die Einnahmen aus ganzjährig verkaufbarem Saatgut und ortsunabhängigen Workshops schaffen eine finanzielle Pufferzone."

Die Learnings: Was Gründer von einer Umweltingenieurin lernen können

1. Geduld schlägt Geschwindigkeit
Fünf Jahre vom ersten Experiment bis zur Gründung. "Lass dich nicht so schnell entmutigen. Es ist normal, dass man im ersten Jahr zweifelt. Und nach jedem Rückschlag passiert was Gutes."

2. Chancen ergreifen statt Masterplan
"Nach außen wirkt es immer so, als hätte ich einen großen Plan und eine große Strategie. Die gibt es aber tatsächlich nicht. Oft werde ich einfach eingeladen: Bewirb dich doch mal. MDR fragt an, Zeitungen melden sich. Das Geheimrezept? Wenn mich jemand fragt, sage ich immer ja."

3. Expertise aus Umwegen nutzen
Die acht Jahre ThyssenKrupp waren keine verlorene Zeit. Projektmanagement, Qualitätsmanagement, systematisches Arbeiten – die Ingenieur-Denkweise trifft landwirtschaftliche Leidenschaft.

4. Nachhaltigkeit muss wirtschaftlich sein
"Meine Motivation ist zu zeigen, dass es auch anders funktioniert – dass wir Gemüse in Deutschland anbauen können und davon Lebensunterhalt verdienen können. Dass man Nachhaltigkeit auch wirtschaftlich machen kann. Das fehlt halt oft bei solchen Projekten. Die sind ökologisch wirksam, aber wirtschaftlich nicht selbsttragend."

5. Das richtige Team zur richtigen Zeit
Heute arbeitet Anna mit Sandra (Landschaftsarchitektin, Permakultur-Expertin) und Anja (Industriekletterin, Fassadenbegrünungs-Spezialistin). Von Solo zu 3 Personen – organisches Wachstum statt VC-getriebenem Scaling.

Das nächste Kapitel: Deutschlands größte Dachfarm

Die aktuelle Farm läuft. Das Geschäftsmodell funktioniert. 2023 kam endlich die erste Förderung: "Junglandwirte-Förderung zur Ansiedlung junger Landwirte in Thüringen. Das erste Mal keine Flächenregelung, ein Bonus für kleine Betriebe, ein Bonus für Frauen in der Landwirtschaft. Da konnten wir endlich mal einen Förderantrag stellen – und haben ihn auch bekommen."

Aber Anna denkt bereits drei Schritte weiter: Die Dachfarm Anger 1. Auf einem Parkhaus-Dach mitten in Erfurt. 4.000 Quadratmeter – fast dreimal so groß wie die aktuelle Farm. Mit Gemüseproduktion, Workshop-Raum, Bistro, Hofladen.

Die Finanzierung? Kreativ: Shiso-Gin in Kooperation mit der Vigand-Weimar-Brennerei (alle Erlöse fließen ins Projekt), Corporate Sponsoring, Supporter-Pakete mit Beetpatenschaften.

Die Vision? Größer: "Millionen Quadratmeter ungenutzter urbaner Flächen in Deutschland in produktive, essbare Landschaften verwandeln. Allein 2021 wurden in Deutschland 90 Millionen Quadratmeter Flachdächer neu gebaut und 1,5 Milliarden Quadratmeter innerstädtische Brachflächen waren ungenutzt."

Was wir von Anna Meincke lernen können

Anna Meinckes Geschichte ist kein Silicon-Valley-Märchen. Kein Unicorn-Exit. Kein viraler Moment, der alles veränderte. Es ist die Geschichte einer Frau, die fünf Jahre auf einer Dachterrasse experimentierte, acht Jahre Corporate-Erfahrung sammelte, den richtigen Moment für den Sprung abwartete – und dann ein Geschäftsmodell baute, das Ökologie und Ökonomie versöhnt.

"Ich möchte diese zwei Problemwelten gleichzeitig lösen", fasst Anna ihre Mission zusammen. "Wir importieren Lebensmittel aus der ganzen Welt, obwohl sie hier gut wachsen können. Und gleichzeitig fehlt es an Grünflächen – alles ist grau und zubetoniert."

Ihre Botschaft an andere Gründer? "Lass dich nicht so schnell entmutigen." Und vielleicht noch wichtiger: Nimm dir die Zeit, die es braucht. Nicht jede gute Idee braucht einen Sprint zum Erfolg. Manchmal braucht es fünf Saisons, in denen man lernt, wie Süßkartoffeln auf einer Dachterrasse wachsen.

Und dann braucht es den Mut zu sagen: Die Energie, die ich gerade verschwende – die investiere ich jetzt in meine eigene Vision.

Der Rest? Der wächst dann von selbst.

Sebastian Meier

Als Brückenbauer zwischen Innovation und Tradition prägt Sebastian Meier die Zukunft des ostdeutschen Unternehmertums. Seine außergewöhnliche Expertise wurzelt in zwei Welten: Als ehemaliger Leiter des Thüringer Zentrums für Existenzgründungen erkannte er die Bedeutung starker Netzwerke und brachte erstmals die relevanten Akteure der Gründungsszene an einen Tisch. Diese neugeschaffenen Synergien zwischen Wirtschaft, Forschung und Förderung wirken bis heute nach. Als Gründer führte er selbst die myGermany GmbH von der Startup-Vision zum erfolgreichen internationalen Bestandsunternehmen.

Diese einzigartige Kombination aus Startup-DNA und Institutionserfahrung macht ihn zum gefragten Sparringspartner für Unternehmer und Innovatoren. Mit EASTSIDE HEROES verfolgt er heute eine klare Mission: Die Transformation Ostdeutschlands zum dynamischen Wirtschaftsstandort der Zukunft. Sein 15 Jahre aufgebautes Netzwerk aus über 500 aktiven Unternehmenskontakten nutzt er, um etablierte Player mit innovativen Scale-ups zu verbinden und echte Wertschöpfung zu generieren.

Als Nerd für Künstliche Intelligenz und Automatisierung berät Sebastian regelmäßig Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation.

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„Wir sind eine junge Wirtschaft — und das ist unsere größte Chance.“ Christian Schädlich (ZeTT-Radar)